In den vergangenen Jahrzehnten erlebte der Westen eine familienfeindliche
Revolution, die in der Geschichte beispiellos ist. Ein Eckpfeiler dieses
Zersetzungsprozesses der Institution Familie war die Trennung der beiden
primären Ehezwecke: der Fortpflanzung und der Vereinigung.
Der Fortpflanzungszweck, von der ehelichen Verbindung getrennt, führte zur
In-vitro-Fertilisation und zur Leihmutterschaft.
Die von der Zeugung losgelöste
Vereinigung führte zur Apotheose der freien Liebe, ob heterosexuell oder
homosexuell. Ein Ergebnis dieser Verirrungen ist der Rückgriff von homosexuellen
Paaren auf die Leihmutterschaft, um eine groteske Karikatur der natürlichen
Familie zu verwirklichen.
Der Enzyklika Humanae
Vitae von Paul VI., deren Veröffentlichung sich am 25. Juli 2018 zum
50. Mal jährt, kommt das Verdienst zu, die Untrennbarkeit der beiden Bedeutungen
der Ehe zu bekräftigen und mit Deutlichkeit die künstliche Empfängnisverhütung
zu verurteilen, die in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts durch die
Vermarktung der Pille des Physiologen Pincus möglich wurde.
Dennoch trägt auch Humanae Vitae eine Verantwortung: Nicht mit
derselben Klarheit die Hierarchie der Zwecke, das heißt, den Vorrang der
Fortpflanzung gegenüber der Vereinigung bekräftigt zu haben. Zwei Grundsätze
oder Werte stehen niemals auf der derselben Gleichheitsebene. Einer ist immer
dem anderen untergeordnet.
Das gilt für das Verhältnis zwischen Glaube und Vernunft, zwischen Gnade und
Natur, zwischen Kirche und Staat und so weiter. Das sind zwar untrennbare
Realitäten, aber voneinander verschieden und hierarchisch geordnet. Wenn die
Reihenfolge dieser Beziehungen nicht definiert wird, entstehen Spannungen und
Konflikte, die bis zur Umkehrung der Grundsätze führen können. Ein Grund für den
moralischen Zerfallsprozeß in der Kirche ist, unter diesem Gesichtspunkt
betrachtet, auch die fehlende Klarheit in der Definition des Hauptzwecks der Ehe
durch die Enzyklika von Paul VI.
Die Ehelehre der Kirche wurde von Papst Pius XI. in seiner
Enzyklika Casti Connubii vom 31. Dezember 1930 als endgültig und
verbindlich bestätigt. In diesem Dokument erinnert der Papst die ganze Kirche
und die ganze Menschheit an die grundlegenden Wahrheiten über das Wesen der Ehe,
die nicht von den Menschen, sondern von Gott selbst gestiftet wurde, und über
die Segnungen und Vorteile, die der Gesellschaft aus ihr erwachsen.
Der erste Zweck ist die Fortpflanzung:
Das bedeutet nicht, nur Kinder in die
Welt zu setzen, sondern sie intellektuell, moralisch und vor allem geistlich zu
erziehen, um sie zu ihrer ewigen Bestimmung zu führen, die der Himmel ist.
Der
zweite Zweck ist die gegenseitige Unterstützung zwischen den Ehepartnern, die
weder eine nur materielle Unterstützung noch eine nur sexuelle oder sentimentale
Übereinkunft ist, sondern in erster Linie eine geistliche Unterstützung meint
und ein geistlicher Bund ist.
Die Enzyklika enthält eine klare und kräftige Verurteilung der Verwendung von
Verhütungsmitteln, die als „etwas Schimpfliches und innerlich Unsittliches“
bezeichnet ist. Deshalb: „Jeder Gebrauch der Ehe, bei dessen Vollzug der Akt
durch die Willkür der Menschen seiner natürlichen Kraft zur Weckung neuen Lebens
beraubt wird, verstößt gegen das Gesetz Gottes und der Natur, und die solches
tun, beflecken ihr Gewissen mit schwerer Schuld„.
Pius XII. bestätigte in vielen Ansprachen die Lehre seines Vorgängers. Das
ursprüngliche Schema über die Familie und die Ehe des Zweiten Vatikanischen
Konzils, das im Juli 1962 von Johannes XXIII. approbiert, aber zu Beginn der
Arbeiten von den Konzilsvätern abgelehnt wurde, bekräftigte diese Doktrin und
verurteilte ausdrücklich „Theorien, die in Umkehrung der richtigen
Werteordnung den Hauptzweck der Ehe zugunsten der biologischen und persönlichen
Werte der Ehegatten in den Hintergrund rücken und in derselben objektiven
Ordnung die eheliche Liebe als Hauptzweck nennen„(Nr. 14).
Der Fortpflanzungszweck, objektiv und in der Natur verwurzelt, wird immer
fortbestehen. Der Vereinigungszweck, subjektiv und auf dem Willen der Ehegatten
gegründet, kann verschwinden. Der Vorrang des Fortpflanzungszweckes rettet die
Ehe, der Vorrang der Vereinigung setzt sie ernsten Gefahren aus.
Außerdem dürfen wir nicht vergessen, daß die Ehezwecke nicht zwei, sondern
drei sind, weil es nachgeordnet auch die Abhilfe gegen die Begierde gibt. Von
diesem dritten Zweck der Ehe spricht niemand mehr, weil die Bedeutung des
Begriffs Begierde verlorengegangen ist, der heute meist – auf lutherische Weise
– mit der Sünde verwechselt wird.
Die Begierde, die in jedem Menschen vorhanden ist, außer in der
allerseligsten Jungfrau, die von der Erbsünde ausgenommen ist, erinnert uns
daran, daß das Leben auf Erden ein unablässiger Kampf ist, denn wie der heilige
Johannes sagt: „Denn alles in der Welt ist Begierde des Fleisches, Begierde
der Augen und Begierde des Besitzes„( 1 Joh 2,16).
Die Verherrlichung der Sexualtriebe – der herrschenden Kultur durch die
Lehren von Marx und Freud eingeimpft – ist nichts anderes als die Verherrlichung
der Begierde, und damit der Erbsünde.
Diese Verkehrung der ehelichen Bestimmung, die unweigerlich zu einer
Explosion der Begierden in der Gesellschaft führt, zeigt sich im Schreiben Amoris
laetitia von Papst Franziskus vom 8. April 2016, wo wir in der Nummer
36 lesen: „Andererseits haben wir häufig die Ehe so präsentiert, daß ihr
Vereinigungszweck – nämlich die Berufung, in der Liebe zu wachsen, und das Ideal
der gegenseitigen Hilfe – überlagert wurde durch eine fast ausschließliche
Betonung der Aufgabe der Fortpflanzung„.
Diese Worte wiederholen fast wörtlich jene, die Kardinal Leo-Joseph Suenens
in seiner Rede am 29. Oktober 1964 In der Konzilsaula sagte, und die Paul VI.
skandalisierten:
„Es kann sein“, so der Kardinal und Erzbischof von
Brüssel, „daß wir die Worte der Schrift, ‚Wachst und mehret euch‘, etwas
überbetont haben, so sehr, daß ein anders göttliches Wort im Schatten blieb:
‚Und die beiden werden ein Fleisch sein‘ […] Die Kommission wird uns sagen, ob
wir den ersten Zweck, die Fortpflanzung, nicht zu sehr betont haben, zu Lasten
eines ebenso imperativen Zweckes, dem Wachstum in der ehelichen
Einheit.“
Kardinal Suenens erweckt den Eindruck, daß der Hauptzweck der Ehe nicht darin
besteht, zu wachsen und sich zu vermehren, sondern darin, daß „die zwei ein
Fleisch sind“.
Von einer theologischen und philosophischen Definition wird zu
einer psychologischen Beschreibung der Ehe gewechselt, die nicht als eine in der
Natur verwurzelte Bindung dargestellt wird, die der Vermehrung der Menschheit
dient, sondern als eine intime Gemeinschaft, deren Zweck die gegenseitige Liebe
der Ehepartner ist.
Sobald aber die Ehe auf eine Liebesgemeinschaft reduziert ist, wird die
Geburtenkontrolle, ob natürlich oder künstlich, als ein Gut angesehen und
verdient, unter dem Namen „verantwortete Elternschaft“, gefördert zu werden, da
sie dazu beiträgt, das Hauptgut der ehelichen Vereinigung zu stärken. Die
unvermeidliche Folge ist, daß in dem Moment, in dem diese innige Gemeinschaft
scheitert, die Ehe sich auflösen sollte.
Mit der Umkehrung der Zwecke geht die Umkehrung der Rollen innerhalb des
Ehebundes einher.
Das psychophysische Wohlbefinden der Frau tritt an die Stelle
ihres Auftrages als Mutter.
Die Geburt eines Kindes wird als etwas gesehen, das
die innige Liebesgemeinschaft des Paares stören kann.
Das Kind kann als
ungerechter Aggressor gegen das Familiengleichgewicht gesehen werden, gegen den
man sich mit Verhütung und notfalls auch Abtreibung verteidigen muß.
Die Interpretation, die wir den Worten von Kardinal Suenens gegeben haben,
tut ihnen keinen Zwang an.
In Übereinstimmung mit seiner Rede führte der Primas
von Belgien 1968 den Aufstand der Bischöfe und der Theologen gegen Humanae
vitae an. Die Erklärung des belgischen Episkopats vom 30. August 1968 gegen
die Enzyklika von Paul VI. war zeitgleich mit jener des deutschen Episkopats1) die
erste, die von einer Bischofskonferenz ausgearbeitet wurde und anderen
Episkopaten als Vorbild diente.
Den Erben dieses Protestes, die eine Neuinterpretation von Humanae
vitae im Licht von Amoris laetitia anstreben, antworten wir daher
mit Entschiedenheit, daß wir die Enzyklika von Paul VI. weiterhin im Licht
von Casti
connubii und des immerwährenden Lehramtes der Kirche lesen werden.
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